Torsten Lieberknecht: „Ich hinterfrage mich immer selbst“


Am letzten Spieltag hat Bundesliga-Aufsteiger Eintracht Braunschweig seinen ersten Sieg in der deutschen Eliteklasse feiern können. Ausgerechnet im Derby beim wenig geliebten VfL Wolfsburg-Sieg gelang letztlich ein hochverdienter 2:0-Sieg. Trotzdem bleibt der Deutsche Meister des Jahres 1967 auch weiterhin auf dem letzten Tabellenplatz, da Freiburg kurz vor Schluss im Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt noch einen Punkt geholt hat. Nun nimmt der 40-jährige Fußball-Lehrer zu verschiedenen hochinteressanten Themen Stellung in einem ausführlichen Interview.

Torsten Lieberknecht: „Ich hinterfrage mich immer selbst“
Bild: dfb.de
Der „romantische Sieg“ beim VfL Wolfsburg

Den Sieg in der Autostadt Wolfsburg schätzt er als enorm wichtig ein, da es nicht nur ein Prestigeerfolg gewesen ist, sondern vor allem auch ein Zeichen an die Liga und sich selbst. Dies hat Lieberknecht so registrieren können: „ Ein Stück weit war das mit Sicherheit auch ein romantischer Sieg. Uns haben danach Mails aus ganz Deutschland erreicht, auch von eingefleischten Fans ganz anderer Vereine. Die haben uns das gegönnt. Ich hoffe, nicht nur aus Mitleid (schmunzelt). Sondern weil sie gesehen haben, wie die Leute in Braunschweig die Liga annehmen, dass wir trotz der Niederlagenserie zuvor authentisch geblieben sind. Dass wir uns von unserem – wie Sie so schön sagen – romantischen Weg, auch nicht abbringen lassen.“

„An Rücktritt habe ich nie gedacht“

Fußball ist bekanntlich ein Tagesgeschäft. Dies hat auch der Eintracht-Trainer am eigenen Leib erfahren dürfen. Nur knapp eine Woche nach dem desaströsen 0:4 im Heimspiel gegen den VfB Stuttgart herrschte Untergangsstimmung in Braunschweig. Es wurde sogar temporär ein Rücktritt des Aufstiegstrainers gemutmaßt. Nun konnte der erste Bundesliga-Sieg seit über 28 Jahren die allgemeine Stimmung wieder deutlich entspannen, was auch der Coach so bestätigen kann: „Die Woche war verrückt, das stimmt. Meine Aussagen auf der Pressekonferenz haben wohl bei dem einen oder anderen Interpretationsmöglichkeiten zugelassen. Aber an Rücktritt habe ich nie gedacht. Wer mich kennt, der weiß, dass ich selbst nach acht Siegen hintereinander immer noch selbstkritisch bin.“ Er wehrt sich dagegen, dass diese Aussagen klar kalkuliert gewesen sind. Vielmehr nennt er die Emotionen als die treibende Kraft in diesem Fall: „ Das war aber kein bewusstes Handeln. Es war emotional, aber in den Worten trotzdem auch rational gewählt. Dass es am Ende der Woche mit dem Sieg in Wolfsburg eine positive Wirkung hatte, dessen war ich mir in dem Moment überhaupt nicht bewusst.“

„Diese Emotionalität ist auch nur eine Facette von mir“

Lieberknecht kommt aus der berühmten Mainzer-Schule, durch die auch schon Dortmunds-Trainer Jürgen Klopp gegangen ist. An der Seitenlinie lebt er seine Unzufriedenheit aus. Er wählt stets deutliche Worte, sieht aber nicht die Gefahr, dass sich dies auf Dauer tatsächlich abnutzen könnte: „Nein, die sehe ich nicht. Das würde ja sonst auch heißen, dass ich mich komplett ändern müsste. Es ist ja nicht so, dass ich irgendwelchen Stuss erzähle. Diese Emotionalität ist auch nur eine Facette von mir. Wir haben in den letzten fünf Jahren so gearbeitet, dass wir in die erste Liga gekommen sind. Das erreichst du nicht, wenn du nur emotional bist, wenn da nicht mehr dahinter steckt. Aber manchmal ist das meine Art. Ich finde das auch nicht verwerflich, Emotionen in der Öffentlichkeit zuzulassen. Ich habe auch in der Pressekonferenz nur gesagt, dass ich es als normal in diesem Geschäft empfinde, wenn nach so einer Negativserie auch andere ins Grübeln kommen würden. Das ist doch die Normalität bei vielen anderen Vereinen.“

„Es ist beeindruckend, was unsere Fans machen“

Fast drei Jahrzehnte ist die Eintracht aus Braunschweig von der nationalen Bildschwäche fast verschwunden gewesen und spielte seitdem nur noch in der zweiten und dritten Spielklasse. Die Tradition vom Bundesliga-Gründungsmitglied blieb jedoch immer bestehen, was auch Lieberknecht so erkannt hat, wenn er sagt: „ Nein, wir sind überhaupt kein normaler Verein. Das haben die Reaktionen gezeigt.“ Ein Kompliment spricht Lieberknecht an die eigenen Fans aus, die bedingungslos auch in schweren Zeiten zu ihrer Mannschaft stehen. Diese ganz besondere Treue beschreibt er wie folgt: „Das weiß ich ganz hoch einzuschätzen. Das ist es ja eben, das ist nicht normal. Es ist beeindruckend, was unsere Fans machen. Schon im Spiel sangen sie "You'll never walk alone.“ Da stand es 0:4.“

Lieberknecht nennt Gründe für einen Rücktritt

Auch sehr ungewöhnlich scheint auf den ersten Blick die Tatsache zu sein, dass durch seinen Manager Marc Arnold ihm eine Jobgarantie ausgesprochen worden ist. Einzig ein Rücktritt könnte seine Arbeit in Braunschweig beenden. Der Eintracht-Coach nennt nun hier die Gründe, die ausschlaggebend sein würden, dass er seine Tätigkeit vorher beenden wird: „Wenn sich alle abwenden würden und sagen, dieses Gesicht können wir beileibe nicht mehr sehen. Dann würde ich sagen, es ist besser zu gehen. Es muss ja nicht so weit kommen, wie es dem Trainer in der vergangenen Woche bei Lewski Sofia passiert ist, als die Pressekonferenz gestürmt, ihm der Pullover vom Leib gerissen und gesagt wurde, er sei hier nicht mehr erwünscht.“

„Ich lebe von der Identifikation“

Seit einem halben Jahrzehnt, genauer gesagt seit dem Jahr 2008 ist er nun Trainer bei Eintracht Braunschweig. Für ihn sind die „Blau-Gelben“ ohne jeden Zweifel ein ganz besonderer Verein: „Ich weiß, dass ich hier einen Job habe, dass ich als Trainer angestellt bin. Aber ich lebe von der Identifikation, ich lebe vom nahen Umgang mit den Fans und vom Vertrauen zur Mannschaft, zum Trainerstab, zum Verein. Das ist meine Arbeit. Wir haben hier sehr viel erreicht. Wir sind durch Höhen und Tiefen gegangen, ich war erst Spieler und Nachwuchstrainer und dann Trainer. Dazu kommen auch noch private Umstände, dass meine Kinder hier geboren sind. Wenn ich das alles einbeziehe, dann merke ich schon, dass eine sehr große Verbindung da ist. Dass die Beziehung sehr, sehr eng ist. Aber natürlich sage ich das auch wohl wissend, dass es – in Anführungszeichen – nur ein Job ist.“

„Ich bereue das nicht“

Wie bereits zuvor schon erwähnt, sind seine Aussagen nach dem HSV-Spiel sehr emotionaler Natur gewesen. So hat er auf der Pressekonferenz im Anschluss an dieses Spiel von einem „kleinen Pissverein“ namens Eintracht Braunschweig ebenso gesprochen, wie von Benachteiligungen durch die Referees und einen „abgefälschten Fuck-Ball.“ Die Reaktionen auf diese harsche Wortwahl fiel sehr negativ aus. Für den gebürtigen Pfälzer nicht allzu verwunderlich: „ Nein, es war mir schon bewusst, dass es in diese Richtung ausgeschlachtet wird. Aber ich hatte in der Situation trotzdem das Gefühl, dass ich das jetzt sagen muss. Diese Wahrnehmung: kleiner, großer Klub. Dieses Thema gibt es ja jedes Jahr. In dem Moment hatte ich die Ungerechtigkeit verspürt, deswegen diese Aussagen. Das war Gefühl, das war Emotion. Deswegen bereue ich das nicht. Das ist meine Art.“

„Das war doch authentisch“

Ehrlichkeit, Offenheit und Authentizität sind für ihn ganz wesentliche Tugenden. Deshalb stellt es für ihn auch überhaupt keine Alternative dar, dass er Reue für diese klaren Worte zeigt: „Nein, das war doch authentisch. Es gibt doch wirklich schlimmere Wörter. Da sind die Moralapostel auf den Plan getreten. Du hast drei Kinder, das kannst du nicht sagen. Aber meine Kinder kommen mit Wörtern nach Hause, da weiß ich, die können sie von uns Eltern nicht haben. Wir haben danach T-Shirts geschenkt bekommen, die mit "Fuck-Ball" bedruckt sind. Meine Kinder laufen jetzt damit rum. Der Kleine weiß zwar nicht, was das heißt, die Mittlere auch nicht, nur der Große weiß es im angemessenen Moment zu tragen. Aber wenn ich sehe, womit T-Shirts heutzutage sonst so bedruckt sind, da gibt es deutlich Schlimmeres als "Fuck-Ball".

„Der Vaterschutz ist bei mir sehr ausgeprägt“

Echte Charakterstärke ist eine echte Tugend von Lieberknecht, der ein echtes Vorbild für einen guten Trainer darstellt. Auch bei schwachen Vorstellungen kritisiert er seine Spieler nie öffentlich, sondern versucht sie stattdessen noch in Schutz zu nehmen. Dazu hat Lieberknecht folgende Meinung: „Ich bin sehr, sehr selbstkritisch. Manche sagen mir, ich geißle mich selbst und das müsste ich nicht machen. Aber ich hinterfrage mich immer, erst recht wenn wir verloren haben. Hätten wir lieber dies oder jenes im Training machen sollen oder statt grünem Salat Tomate mit Mozzarella essen sollen. Das ist natürlich Humbug. Aber all diese Dinge gehen einem durch den Kopf. Es ist kein bewusstes Vor-die-Mannschaft-stellen. Aber ich habe eine Art der Mannschaftsführung, dass ich gerne der "Vater" meiner Spieler bin, obwohl sie alle erwachsen sind. Der Vaterschutz ist bei mir sehr ausgeprägt. Wenn einer meiner Spieler kritisiert wird, dann mag ich das nicht. Wenn er sich nicht wehren kann, dann versuche ich das zu machen – für den Spieler. Der weiß es wahrscheinlich nicht, dass es für ihn war.“

„Wir leben seit fast fünf Jahren auf der Baustelle“

Nicht nur der Trainer zeigte eine exorbitante Identifikation mit dem Verein Eintracht Braunschweig. Ähnlich ist dies bei den Spielern, die ebenfalls eine tiefe Bindung zum Verein aufgebaut haben.
Lieberknecht versucht dafür eine Erklärung zu finden: „ Wenn man weiß, was wir hier in den letzten Jahren alles erlebt haben, mit dem Verein, mit der Mannschaft, dann kann man das verstehen. Es sind Erlebnisse, die manchmal gar nicht auf dem Platz stattfinden. Wir leben hier seit fast fünf Jahren auf der Baustelle. Es gab Zeiten, das mussten wir im Winter zum Laufen auch mal auf die Gokartbahn gehen, weil wir hier keine Möglichkeiten hatten. Auf der Kartbahn hatten wir eine 400-Meter-Strecke zwischen Gummireifen. Da sind wir eben dort gelaufen. Das muss man alles wissen. Oder wir waren in Tunesien im Wintertrainingslager und auf einmal brechen dort die Unruhen aus, und es wird alles versucht, uns in einer Nacht- und Nebelaktion dort rauszuholen – mit gecharterter Maschine und links und rechts hat's geraucht und du hörst Schüsse. Das sind Erlebnisse, die diese Mannschaft auch geprägt haben, die diese Bindung verstärken.“ Über die Reaktion seiner Spieler zu dieser etwas überraschend anmutenden Rücktrittsforderung kann Lieberknecht auch etwas zu erzählen: „ Die war auch ein wenig überrascht. Aber als sie mich dann morgens gesehen hat und ich ihr gesagt habe, hier ist er wieder, euer Verrückter, da mussten sie schmunzeln. Ich habe ihnen erklärt, um was es mir grundsätzlich geht. Und ich glaube, da hat es Klick gemacht.“

Durch die Niederlagen hat sich die Mannschaft neu gefunden

Die motivierenden Worte haben offenbar eine echte Wirkung gezeigt, denn Lieberknecht hat es exzellent schaffen können die Mannschaft geschickt wieder aufzubauen, damit der erste Saisonsieg in Wolfsburgs folgen konnte. Der Trainer plaudert aus dem Nähkästchen: „ Ich habe mit ihnen darüber gesprochen, was uns in den letzten Jahren unglaublich ausgezeichnet hat. Es war dieser unbändige Teamgeist, für diesen Verein zu spielen und das zu vermitteln. Dieses Jahr waren wir in einem neuen Prozess, du steigst auf, neue Spieler kommen in den Verein. Vielleicht ist es mir in der Vorbereitung nicht ganz gelungen, dieses Mannschaftsleben zu vermitteln. Vielleicht ist es das, was wir aus den Niederlagen herausgezogen haben, dass sich die Mannschaft neu gefunden hat, eine neue Dimension bekommen hat.“

Lieberknecht glaubt an den Klassenerhalt der Eintracht

Über die kommenden Ziele kann er folgende Auskunft geben: „Die Frage ist ja, und das wird gerne vergessen, was hatten wir denn vor? Wir wollten uns für lange Zeit in der Zweiten Liga etablieren, das war unser Ziel, auch um viele Strukturen rings um den Verein zu verbessern. Wir waren diese Fahrstuhlmannschaft, das wollten wir nicht mehr sein. Jetzt sind wir in die erste Liga aufgestiegen, das hat uns etliche neue Möglichkeiten geschaffen. Wirtschaftlich und auch sportlich, weil wir jetzt ganz andere Chancen haben, Spieler zu verpflichten. Weil sie sehen, hier wird etwas aufgebaut. Das soll auch so bleiben. Das Happy End können wir jetzt nicht davon abhängig machen, wo wir in der kommenden Saison spielen werden. Allerdings glaube ich ganz fest daran, dass wir in der Saison 2014/15 immer noch in der ersten Liga sind.“ Er begründet seinen Optimismus in Bezug auf den Klassenerhalt: „In Wolfsburg waren wir in der Lage zu gewinnen, weil die Jungs bis ans Limit gegangen sind. Das ist in jedem Spiel unser Ziel und die große Herausforderung. Aber wenn du Erfolgserlebnisse hast, dann bekommst du ein besseres Gefühl, dann weißt du, du kommst an dieses Limit. Dieses Gefühl haben wir uns jetzt in Wolfsburg geholt.“

„Die Mannschaft hat gelernt mit Rückschlägen umzugehen“

Wenig ruhmreiche Vergleiche mit Tasmania Berlin wurden schon von einigen Kritikern angestellt, denn Eintracht Braunschweig ging nach sieben Spieltagen sogar als die schlechteste Mannschaft der gesamten Bundesligageschichte ein. Nun haben sie den Anschluss an die Nichtabstiegsplätze zumindest einmal wieder verringern können. Für Lieberknecht geht es nun darum an die starke Vorstellung 40km weiter westlich von Braunschweig in den kommenden Spielen anzuknüpfen. Am besten schon am kommenden Samstag im Heimspiel gegen den FC Schalke 04, was er gegenüber der „Welt am Sonntag offenbart hat: „Nach acht Spieltagen haben wir den ersten Sieg geholt, haben vier Punkte und sind gar nicht so weit weg von anderen Klubs. Letztlich war es doch so, dass die Mannschaft einen Prozess erlebt hat, der eigentlich normal war, mit dem man rechnen konnte, zwar nicht wollte. Aber wir wussten um die Schwere. Entscheidend war, dass die Mannschaft gelernt hat, mit diesen Rückschlägen umzugehen und diese neue Dimension kennenzulernen. Wir haben das Gefühl der Niederlage jetzt am Anfang der Saison mit voller Wucht kennengelernt. Wir werden mit Sicherheit noch mal in dieser Saison in so eine Phase kommen. Aber andere Vereine könnten auch in diese Situation geraten.“

Quelle: welt.de
Autor: Henning Klefisch
Schlagworte: Eintracht Braunschweig, Torsten Lieberknecht. VfB Stuttgart, 1. FC Nürnberg, Jürgen Klopp, Hamburger SV, Marc Arnold
Datum: 13.10.2013 17:20 Uhr
Url: http://www.3-liga.com/news-fussball-torsten-lieberknecht--„ich-hinterfrage-mich-immer-selbst“-8178.html


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