Bundestrainer Joachim Löw vergleicht Bergwandern mit Fußballspielen


An Weihnachten ist bekanntlich allgemein die besinnliche Zeit, in der auf das zu Ende gehende Jahr noch einmal zurückgeblickt wird. Dies gilt auch für Bundestrainer Joachim Löw, der im Interview mit „DFB.de“ sich über das ereignisreiche Jahr noch einmal äußert und gleichzeitig auch die Ziele für das turnierfreie Jahr 2013 äußert. Gleichzeitig gibt der 52-Jährige auch einen Einblick in sein Privatleben. Besonders auf das EM 2012-Turnier bezogen äußert er sich ein wenig dünnhäutig. Selten zuvor stand der Bundestrainer so massiv in der Kritik.

Selbstbewusstsein ist jedoch eine Tugend, die Löw in großem Maße ausstrahlt. Zumindest öffentlich will er keine Aufstellungsfehler zugeben. Löw versucht stattdessen die Relationen zurechtzurücken, indem er den tragischen Selbstmord von Robert Enke anspricht, der Ende 2009 deutlich schwerer zu verarbeiten gewesen ist, als das unnötige Ausscheiden im EM-Halbfinale gegen Italien. Dennoch versteht er die kritische Haltung vieler Beobachter bezüglich des Jahres 2012: „Ich selbst habe das nicht so empfunden, auch nicht gesagt. Schwierig waren die Tage und Wochen, nachdem sich Robert Enke das Leben genommen hatte. Ich kann das schon alles recht gut einordnen, weiß aber natürlich, was Sie meinen. Die Enttäuschung nach dem Spiel gegen Italien war groß, bei uns allen. Vor allem, weil es uns nicht gelungen ist, unser Potenzial auszuschöpfen. Wir hatten kein Pech, das Aus war nicht ungerecht, es lag nur daran, dass wir in den 90 Minuten nicht gezeigt haben, was wir können. Als Trainer bin ich verantwortlich, dass genau so etwas nicht passiert. Da ist es klar, dass man sich, seine Arbeit und seine Methoden hinterfragt. Das habe ich nach der EM getan.“
Bewusst hat er sich nach der unglücklich verlaufenen Europameisterschaft in Polen und der Ukraine medial zurückgehalten, um die laufenden Diskussionen nicht noch weiter anzuheizen. Der langjährige Erfolgscoach versucht dies gegenüber „DFB.de“ zu begründen, indem er erklärt: „Es stimmt ja nicht, dass ich mich nicht gestellt oder erklärt hätte. Ich war unmittelbar nach dem Spiel bei der Pressekonferenz, auf dem Rückflug nach Deutschland gab es noch im Flieger eine Runde mit Journalisten, nach der Ankunft in Frankfurt ein Pressegespräch am Flughafen. Aber ich gebe zu, dass ich nach der EURO auch eine gewisse Distanz brauchte, um die Dinge zu verarbeiten. Um Energie zu tanken, hilft mir, dass ich im privaten Bereich auch andere Themen als den Fußball habe. Daraus resultiert auch die Kraft, mich mit voller Überzeugung und Freude meiner Arbeit als Bundestrainer widmen zu können. Nach der EM habe ich dann auch schnell wieder gespürt, wie groß die Motivation, die Lust in mir ist. Zumal der DFB mit seinem Präsidenten Wolfgang Niersbach komplett hinter mir steht. Die Arbeit mit der Mannschaft, dem Trainerteam und den Betreuern macht mir unverändert großen Spaß. Deshalb freue ich mich auf die nächsten Monate.“
Trotz des turnierfreien Jahres 2013 sieht er nicht weniger Stress auf sich zukommen. Vielmehr erklärt er offen und ehrlich, dass er sich als einen Wettkampftypen ansieht, der den maximalen Erfolg anstrebt: „Das Schönste für mich sind die Turniere. Bei den Endrunden haben wir die Chance, uns mit den Besten der Welt zu messen. Ich empfinde dies nicht als Druck, sondern als Chance und als Reiz. Meine persönliche Bilanz mache ich außerdem nicht nur an Titeln fest. Natürlich müssen wir uns höchste Ziele setzen. Als Spitzensportler müssen wir das Ziel haben, Weltmeister zu werden, das wäre das Größte. Und ich werde alle beeinflussbaren Faktoren beeinflussen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass dieser Fall eintritt.“
Konkret nennt Löw die Verbesserungsmöglichkeiten, die sein Team noch weiter antreiben. So war das vergangene Kontinentalturnier in Osteuropa auch hilfreich, dass die bestehenden Schwächen effektiv in den nächsten 1 ½ Jahren ausgemerzt werden können. Dies betont er ausdrücklich: „Meinen Auftrag sehe ich vor allem darin, die spielerischen Möglichkeiten der Mannschaft voll auszuschöpfen. Ich ziehe eine große Befriedigung daraus, wenn ich sehe, dass dies gelingt. Wenn wir 2014 den WM-Titel nicht gewinnen, werden wir enttäuscht sein, es heißt aber nicht zwangsläufig, dass wir dann enttäuscht haben müssen. Es kann keine Garantie auf Titel geben. Vielleicht können wir alle aus dem vergangenen Jahr etwas mitnehmen, die Erwartungen an der Realität zu orientieren, nicht an Hoffnungen und Träumen. Die Spanier haben Jahrzehnte auf den Titel hingearbeitet, Argentinien ist 1986 zum letzten Mal Weltmeister geworden. Ich finde, dass wir Deutschen gut daran tun, auch die Leistungen anderer Nationen zu respektieren. Jeder Gegner verdient Respekt. Wir stehen nicht allein da mit unserem Traum, wieder einen Pokal zu holen. Prinzipiell aber ist es mir noch viel zu früh, über 2014 zu reden.“
Löw gilt als ausgesprochener Realist, der sich erst über Sachen äußern möchte, wenn diese auch tatsächlich Wirklichkeit sind. Deswegen sieht er noch schwere Aufgaben auf sein Team zukommen, wie er „DFB.de“ verrät: „Ja, noch ist es nicht so weit. Gegen Schweden haben wir erleben müssen, dass wir mit unvorhergesehenen Ereignissen noch unsere Schwierigkeiten haben. Die Qualifikationsrunde ist kein Selbstläufer. Nicht nur die Schweden, auch Österreich und Irland können Fußball spielen. Und ich habe auch großen Respekt vor den Anstrengungen in Kasachstan und auf den Färöern. Klar ist aber auch, dass wir das Selbstbewusstsein haben, um den Anspruch zu formulieren, dass wir diese Gruppe gewinnen wollen.“
Als klare Ziele für das kommende Jahr definiert er: „Wir müssen, wollen und werden uns als Team entwickeln. Daran werde ich gemeinsam mit Hansi Flick, Andreas Köpke und Oliver Bierhoff arbeiten. Uns hat zuletzt manchmal die Balance gefehlt. Wir haben in der Offensive ein fast einzigartiges Potenzial. Wir haben unseren Spielstil gefunden, aber noch nicht perfektioniert. In der Rückwärtsbewegung hatten wir gegen Schweden einige Schwierigkeiten. Ich lasse mir aber nicht einreden, dass dies bedeuten würde, dass die Qualität unserer Spieler in der Defensive höchsten Ansprüchen nicht genügen würde.“
Es gibt schon seit vielen Jahren die lang anhaltende Diskussion, dass der deutsche Fußball grundsätzlich aus den Elementen Kampf, Disziplin, Einsatz und Willen besteht und damit immerhin je dreimal die Weltmeisterschaft und Europameisterschaft gewinnen konnte. Löw, der explizit auch auf spielerische Werte einen großen Wert legt, sieht dies jedoch völlig anders, denn er hat Spielerpersönlichkeiten und fußballerische Werte als ganz entscheidendes Kriterium für den sportlichen Erfolg gesehen, wie er gegenüber „DFB.de“ verraten hat: „Ist das wirklich so? Deutschland wäre 1954 nicht Weltmeister geworden, wenn Fritz Walter, Helmut Rahn und Hans Schäfer nicht hervorragende Fußballer gewesen wären. Das gilt genauso für alle deutschen Teams, die später Titel gewonnen haben. Deren Fähigkeiten nur auf Kampf, Einsatz und Willen zu reduzieren, wird ihrem Können nicht gerecht. Deutschland hatte immer herausragende Fußballer. Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus. Oder nehmen Sie Günter Netzer, Mehmet Scholl und Kalle Rummenigge. Das spielerische Element war immer Teil des deutschen Spiels. Wir sollten froh sein, dass der aktuelle Kader diese Tradition fortsetzt. Es ist ein Segen, dass in unseren Reihen so viele fantastische Fußballer stehen. Dieses Potenzial nicht zu nutzen, wäre fatal, das wird es mit mir nicht geben. Für mich ist inzwischen Kreativität ebenfalls eine deutsche Tugend. Ich kann nicht nachvollziehen, dass diese immer auf Disziplin und Kampf reduziert werden.“
Besonders die Verbindung aus Kampf und Kunst ist es in der Vergangenheit gewesen, die wichtige Komponenten für den Erfolg einer Mannschaft sind. Deshalb sieht er auch die ergebnistechnisch bitteren Niederlagen gegen Italien und Argentinien sowie die „gefühlte Niederlage“ gegen Schweden nicht ganz so dramatisch, da er die positiven Aspekte ausdrücklich betont: „Und es kann auch niemand ernsthaft behaupten, dass es meinen Spielern am Willen und am Einsatz mangeln würde. Wenn das so wäre, hätten die deutschen Fans in Warschau dem Team nach dem Halbfinale nicht applaudiert. Bei aller Enttäuschung war dies für mich ein großer Moment. Respekt zolle ich auch meinen Spielern, wie sie mit der Niederlage umgegangen sind. Sie haben Größe gezeigt und den Italienern fair gratuliert. All das hat dazu geführt, dass wir nach der EM bei aller Enttäuschung in Deutschland mit Zustimmung empfangen worden sind. Spiel eins nach Italien haben wir verloren, in Frankfurt gegen Argentinien. Und die Menschen haben wieder applaudiert. Weil sie gesehen haben, wozu das Team fähig ist. Unsere Fans haben ein feines Gespür, ob sich eine Mannschaft hängen lässt. Das haben wir in keiner Situation getan.“
Besonders die Tatsache, dass sich alle sieben deutschen Vertreter in der Champions- und auch Europa League mit teils glänzendem Fußball durchgesetzt haben, ist für den Bundestrainer ein Indiz dafür, dass der deutsche Fußball sich massiv verbessert hat und eine sehr erfreuliche Entwicklung hingelegt hat: „Diese Erfolge sind ein schöner Beleg dafür, dass in Deutschland und in der Bundesliga schon lange gut und seriös gearbeitet wird. Ohne die aktuell erfreuliche Situation abwerten zu wollen, würde ich mir allerdings wünschen, dass wir vor allem nun auch in den K.-o.-Runden weit kommen, auch mal mit zwei oder drei Mannschaften ins Viertel- oder Halbfinale eines Wettbewerbs einziehen. Insgesamt aber freut mich, dass die Erfolge des deutschen Klubs nachhaltig sind. Sie wurden nicht schnell durch große Investitionen erreicht, sondern durch langfristiges Wirtschaften mit Weitsicht und durch die guten Strukturen, die der deutsche Fußball bietet. Das fängt bei der guten Arbeit in den Leistungszentren der Vereine und in den Stützpunkten des DFB an, das Zusammenwirken zwischen DFB, DFL und Vereinen ist in dieser Hinsicht vorbildlich. Dortmund, Bayern und Schalke haben auch ausländische Stars in ihren Reihen, geprägt wird das Spiel dieser Mannschaften aber durch deutsche Fußballer. Natürlich freut mich als Bundestrainer auch das.“
Besonders die technisch hervorragend ausgebildeten Kicker wie Mario Götze und Marco Reus haben in den Duellen des BVB gegen Teams wie Real Madrid, Manchester City und Ajax Amsterdam absolut überzeugen können. Dennoch sieht er auch andere deutsche Nationalspieler, auch aus dem Ausland, die ihre Leistung an den Tag legen konnten: „Stimmt, aber nicht nur die beiden. Generell hat mir gefallen, wie sich die Nationalspieler auf internationalem Parkett präsentiert haben. Für die Schalker und die Bayern gilt dies genauso wie für Per Mertesacker und Lukas Podolski bei Arsenal sowie Mesut Özil und Sami Khedira in Madrid. Und über Miro Klose müssen wir nicht lange reden. Was er bei Lazio und in der Nationalmannschaft zeigt, ist einfach phänomenal. Richtig aber ist, dass die Dortmunder den wohl größten Sprung gemacht haben. Sie hatten mit Real, Ajax und Manchester City die vermeintlich schwerste Gruppe und standen schon vor dem letzten Spieltag als Gruppensieger fest. Was der BVB bisher in der Königsklasse gezeigt hat, ist einfach stark.“
Die Terminproblematik sorgt beim DFB nicht nur für grundsätzlich zufriedene Gesichter, da Ende Mai 2013 voraussichtlich eine USA-Reise ansteht, wo es einige Terminüberschneidungen mit den Finalspielen in der Champions League und im DFB-Pokal geben kann. Auch dies hat Löw als mögliches Problem erkannt: „Für die Spieler, die letztlich dabei sein werden, ist diese Reise eine tolle Chance. Sie können sich zeigen, sie können Erfahrungen im Kreis der Mannschaft machen. Umgekehrt hätte ich dann die Möglichkeit, neue Spieler über einen längeren Zeitraum zu sehen und zu testen. Die USA-Reise wurde übrigens schon vor längerer Zeit angedacht im Zusammenhang mit der Einladung des US-Verbandes zum 100-jährigen Jubiläum. Ich finde es richtig, dass man als DFB eine solche Einladung annimmt. Das Jubiläumsspiel findet voraussichtlich am 2. Juni statt. Ein zweites Testspiel ein paar Tage zuvor. Die ursprünglichen FIFA-Termine für zwei Testspiele waren zwei Wochen später terminiert, das hätte für die Nationalspieler eine kürzere Sommerpause bedeutet. So haben wir nun aber eine längere Phase der Ruhe und Regeneration. Diese Aspekte werden auch in den USA eine wichtige Rolle spielen. Aber noch mal, das ist alles Konjunktiv, Zukunft. Wer weiß schon, wie sich die Situation in sechs Monaten tatsächlich darstellt, jetzt haben wir erst einmal Weihnachten.“
Auch der Privatmann Joachim Löw ist außerordentlich sympathisch und hat bescheidene Wünsche, wenn es um die Vorsätze für das Jahr 2013 geht: „Ich habe keine klassischen guten Vorsätze, eher Vorhaben. (lacht) Ich wollte beispielweise gemeinsam mit ein paar Freunden schon Anfang Dezember einen Helikopter-Flug über den Schwarzwald machen. Leider hat das aufgrund der Witterungsverhältnisse nicht geklappt. Aber wir wollen das auf jeden Fall nachholen. Es ist bestimmt toll, sich die Heimat einmal von oben anzuschauen.“ Und nennt seine Gründe dafür: „Generell mag ich es, die Dinge von oben aus der Vogel-Perspektive zu betrachten. Ich habe schon einiges probiert, bin mit einem Ultraleicht-Flugzeug geflogen, habe Paragliding gemacht. Fallschirmspringen wollte ich auch schon, auch da hat mir das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Auch eine Expedition in die höchsten Gebirge der Welt ist eine Ambition, die ihn antreibt: „Vielleicht, ja. Es bleibt auf jeden Fall ein Traum von mir. So wie ich gerne einmal in den Anden bergsteigen und in die Region zwischen fünf- und sechstausend Metern oder noch höher kommen würde.“
Seine Leidenschaft für das Bergsteigen präzisiert er in wenigen Worten. Es gibt einige Gemeinsamkeiten zum Fußball: „Das sind mehrere Dinge. Mir gefällt es beispielsweise, mit den Gedanken ganz für sich alleine zu sein. Vor allem reizt mich, in manchen Momenten an die Grenze zu gelangen. Und diese zu überwinden. Das ist körperlich wie geistig eine faszinierende Erfahrung. Es prägt den Charakter, wenn man sich Schritt für Schritt weiter quälen muss, wenn man an den Punkt kommt, an dem man glaubt, dass man nicht mehr in der Lage ist, noch weiter zu gehen. Und dann macht man diesen Schritt, diesen einen entscheidenden, den man dann doch schafft. Es ist sehr speziell, erleben zu können, dass man fähig ist, sehr viel mehr zu leisten als man sich eigentlich zutraut.“
Dieser unbändige Ehrgeiz, dass man auch mehr leisten kann, als man sich zutraut und das Maximale seiner Leistungsfähigkeit voll ausschöpfen kann, ist ein wichtiger Antrieb, den er bei sich auch in Bezug auf das Erreichen der Ziele mit der Nationalmannschaft sieht: „Ich möchte mit der Nationalmannschaft genau diesen einen Schritt machen.“

Quelle: dfb.de
Autor: Henning Klefisch
Schlagworte: DFB_Team; Joachim Löw; Reus; Götze; Khedira; Özil; Podolski; Klose; Bierhoff; Köppke
Datum: 26.12.2012 13:09 Uhr
Url: http://www.3-liga.com/news-fussball-bundestrainer-joachim-loew-vergleicht-bergwandern-mit-fussballspielen-3329.html


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