Brasilien-Trainer Scolari: „Deutschland ist fast ein komplettes Team“


Mit Luiz Felipe Scolari hat sich Brasilien wohl den erfahrensten Fußball-Lehrer als Nationalcoach für die Heim-Weltmeisterschaft diesen Sommer holen können, denn man bekommen konnte. Scolari war es, der für die „Selecao“ bei der WM 2002 den letzten WM-Titel bringen konnte. Nun soll zwölf Jahre später der Gastgeber die Trophäe im eigenen Land behalten. Mit „DFB.de“ spricht der 65-Jährige auch über Deutschland, seine große Vorfreude auf das Heimturnier und seinen gewaltigen Respekt vor der Faszination Bundesliga.

Brasilien-Trainer Scolari: „Deutschland ist fast ein komplettes Team“
Bild: dfb.de
„Wir halten immer die Augen offen“

Zahlreiche Spieler treten in der Sommer- und Wintertransferperiode den Weg von Brasilien in die große, weite Fußballwelt an, um dort ihr Glück zu suchen. Während es früher einen Wechsel in die großen, europäischen Ligen gegeben hat, sind nun auch finanzkräftige Ligen aus Osteuropa und sogar aus Fernost an den Samba-Kickern interessiert. Für einen Nationaltrainer ist dies beileibe nicht einfach alle seine Spieler im Auge zu behalten: „Wir verfolgen ständig die Leistungen von 50 Nationalspielern, die in unserer Datenbank sind und zum engeren Kreis der Kandidaten für die Auswahl zählen. Und wenn neue Namen auftauchen, dann holen wir uns auch entsprechende Informationen ein. Wir halten immer die Augen offen. Denn oft verlassen Spieler mit 17, 18 Jahren Brasilien, und dann bekommen wir mit, dass sie im Ausland gut spielen, erfolgreich sind.“

„Wir vergessen niemanden“

Durch die deutlich besseren technischen Möglichkeiten und die weit verbreiteten Übertragungen können Spiele vom gesamten Erdball verfolgt und analysiert werden, wie Scolari verraten hat: „Hier im brasilianischen Fernsehen können wir mittlerweile die wichtigsten Ligen der Welt verfolgen. Und von jedem Spiel, in dem aus unserer Sicht interessante Brasilianer mitwirken, machen wir Analysen und Videomitschnitte. Wer heute zum Beispiel in der Ukraine oder Russland spielt und glaubt, nicht von uns bemerkt zu werden, der irrt sich. Er kann sicher sein, dass wir möglichst alle Spiele von ihm verfolgen. Wir vergessen niemanden.“

„Auf Joachim Löw halte ich große Stücke“

Neben Gastgeber Brasilien ist auch die deutsche Nationalmannschaft zum Favoritenkreis bei diesem Endturnier zu zählen. Bei den letzten drei Weltturnieren konnten die Bundesadler zwei mal den dritten Platz und einmal sogar die Vize-Weltmeisterschaft erreichen. Seine Beziehung zum Bundestrainer Joachim Löw beschreibt Scolari wie folgt: „Auf ihn halte ich ganz große Stücke. Ich bin ein Freund von ihm seit meiner Zeit in Portugal. Jürgen Klinsmann hat damals den Umbau eingeleitet, Joachim hat diese Reformen so fortgesetzt, dass Deutschland heute einer der WM-Favoriten ist. Joachim hat bei der WM, der EM und in der zurückliegenden WM-Qualifikation alle überzeugt. Ich mag die Art und Weise, wie er arbeitet. Ich finde, dass er die Inspiration hat, das Team stets zu verjüngen. Und das ist gut für den deutschen Fußball. Er liefert eine herausragende Arbeit ab, das bewundere ich. Wenn wir sagen würden, dass es vier Kandidaten für den WM-Titel gibt, liegt die prozentuale Chance Deutschlands sicher bei 30 bis 35 Prozent, also höher als bei den anderen. Das ist sein Verdienst.“

Deutschland mit starkem Defensiv und starkem Angriff

Der Fußball-Fachmann Scolari hat zugleich die Stärken und die Unterschiede des DFB-Teams im Vergleich zu den anderen Mannschaften erkennen können: „Die Biometrik, der physische Aspekt, wie sie in den Spielen auftreten, die Art und Weise, wie sie dem Spiel ihren Stempel aufdrücken, den Gegner schon früh attackieren. Die Kraft, die Zielstrebigkeit, die Schnelligkeit bei Kontern. Deutschland hat ein Team, das auf ein starkes Defensivsystem setzt, aber auch auf einen starken Angriff. Ich darf das eigentlich nicht sagen, aber es ist fast ein komplettes Team, unter allen Gesichtspunkten, die sich ein Trainer wünscht. Verraten Sie es den Deutschen nicht!“

„Sechs bis acht Teams, die sich auf den Titel ernsthaft Hoffnung machen können“

Im letzten Sommer gab es schon einen kleinen Vorgeschmack auf das anstehende Wellturnier, denn beim Confed-Cup hat Brasilien in überzeugender Manier gewinnen können. Dennoch sieht er seine Mannschaft nicht als Topfavoriten, sondern zählt neben Argentinien noch zahlreiche europäische Mannschaften zum Kreis der Favoriten: „Das ist alles noch zu früh, um eine Prognose zu wagen. Aber bei einer WM gibt es normalerweise immer sechs bis acht Teams, die sich auf den Titel ernsthaft Hoffnung machen können. Im Moment halte ich Deutschland, Spanien, Brasilien und Argentinien, das auf dem südamerikanischen Kontinent derzeit eine herausragende Arbeit abliefert, für die aussichtsreichsten Kandidaten. Und es gibt ja auch noch die Niederlande, Italien, Frankreich, England. Der Kreis ist also sehr groß.“

„Wir zählen zu den Kandidaten mit großen Chancen auf den WM-Titel“

Ein großer Vorteil könnte für die brasilianische Nationalmannschaft zweifelsfrei sein, dass die Unterstützung durch die Zuschauer wahrlich beeindruckend ist, wie auch eindrucksvoll bei der letztjährigen Mini-WM erkannt: „Wir sind mit einem Team zum Confed-Cup gekommen, von dem niemand wusste, ob es das Zeug zum Titel hatte oder nicht. So wie wir gespielt haben, wie wir taktisch agiert haben, wie die Spieler innerhalb der Seleção und vor der Nation aufgetreten sind, zählen wir zu den Kandidaten mit großen Chancen auf den WM-Titel. Die Fans haben sich nach einer Seleção gesehnt, die vibriert und mit Herz spielt.“

„Es sind noch keine Türen verschlossen“

Auch wenn für Scolari der Großteil des WM-Kaders sicherlich schon steht, so gibt es durchaus noch die Chance, dass routinierte Spieler wie Ronaldinho, Kaká, Robinho, aber auch junge Talente noch nominiert werden können. Die kommenden Wochen und Monate werden dafür zweifelsfrei entscheidend sein, was auch Scolari so bestätigen kann: „Es sind noch keine Türen verschlossen. Natürlich werde ich neue Spiele testen und beobachten, um mein Idealteam für die WM zusammenzustellen. Das ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.“

„Neymar ist bereit zu lernen“

Beim Confederations-Cup konnte Jungstar Neymar mit außergewöhnlichen Leistungen auf sich aufmerksam machen. Sein Potential ist unbestritten gewaltig. Scolari sieht als überaus wichtig an, dass er durch sein Engagement beim FC Barcelona eine gewisse Struktur in sein Spiel bekommen hat: „Er wird in seinem ersten Jahr in Spanien beim FC Barcelona vor allem lernen, sich einem taktischen Schema unterzuordnen. Beim FC Santos und in der Seleção hat er sich zwar stets an die taktischen Vorgaben gehalten. In Spanien aber muss er damit sogar jeden Tag leben. Wir hier in Brasilien halten uns nicht so streng an taktische Marschrouten wie in Europa. Das ist eine Umstellung für ihn. Wichtig für ihn, wichtig für uns. Er ist aber bereit zu lernen. Und dann spielt er jetzt in der spanischen Liga, in der Champions League, auf einem anderen Niveau als in Brasilien. Vor allem unter taktischen Aspekten ist das eine neue Erfahrung für ihn, etwa wie man gegen ein Team spielt, das sich mit neun Mann hinten reinstellt.“

Scolari erklärt die Taktik

Über seine spezielle Idee vom interessanten Fußball kann der Trainer-Veteran „DFB.de“ folgendes verraten: „Fußball funktioniert ganz einfach: ohne Ball Positionen einnehmen, den Gegner stellen und im Ballbesitz einfach spielen. Fertig, aus. Es gibt kein System, bei dem man im Ballbesitz auf Abwehrarbeit verzichten kann und gewinnt. Das kannst du vergessen. Es ist also ganz einfach. Und der Trainer arbeitet dazu taktische Varianten aus, die den Erfolg bringen können.“

Respekt vor der deutschen Bundesliga

Das Niveau in der brasilianischen Liga ist in den letzten Jahren auch durch die neue Finanzkraft enorm gestiegen. Der Nationalcoach macht jedoch deutlich, dass noch einige Elemente fehlen, damit sie zu europäischen Spitzenligen aufschließen kann: „Unsere Meisterschaft ist genauso hart umkämpft, wie das in anderen Ligen dieser Welt auch der Fall ist. Sie ist eine gute Liga, aber wir brauchen noch einiges mehr. Vor allem im organisatorischen Bereich müssen wir uns verbessern, um uns der englischen Premier League und vor allem der deutschen Bundesliga anzunähern.“

Können Talente nach der WM in Brasilien gehalten werden?

Immer noch wechseln zahlreiche brasilianische Fußball-Talente aus ihrem Heimatland bereits in jungen Jahren in finanzstärkere Ligen. Das Ziel muss es zukünftig sein, dass diese Spieler in Brasilien behalten werden können. Dies hat auch Felipe Scolari so erkannt: „Es ist schwer. Vor allem unter finanziellen Aspekten, auch wenn es in Europa derzeit wirtschaftlich kriselt. Die Summen, die Spielern und Klubs bei Transfers offeriert werden, sind um einiges höher als hier in Brasilien. Deshalb wird es diese Verkäufe immer geben, weil auch die Klubs von diesen Einnahmen leben. Und die Spieler ziehen natürlich bei Gehältern, die dreimal höher sind als hier, Europa vor. Auch unter taktischen Aspekten ist es für unsere Spieler interessant, einige Jahre in Europa zu spielen. Ich denke, dass wir so ein, zwei Jahre nach der WM sehen können, ob wir dann die Möglichkeiten haben, diese jungen Spieler im Land zu halten, oder ob der Trend nach Europa anhält.“

„Ich habe Vertrauen in meine Arbeit“

Er muss mit einer gewaltigen Erwartungshaltung umgehen, da die gesamte Nation nichts anderes als den Heim-Titel erwartet. Scolari wirkt trotz dieses enormen Drucks sehr entspannt, wie er „DFB.de“ verraten hat: „Ich habe Vertrauen in meine Arbeit, die ich in Zusammenarbeit mit meinem Trainerstab leiste. Und ich habe Vertrauen in unser Land, unsere Fans. Die Menschen in unserem Land begleiten uns und hoffen, dass sich unsere Seleção würdig erweist, eine WM im eigenen Land zu spielen. Und sie träumen natürlich davon, den Titel zu gewinnen. Ohne dieses Vertrauen geht es nicht. Wir freuen uns auf diese WM, denn sie ist für alle eine große Herausforderung, für unser ganzes Land wie für unsere Mannschaft. Ich erinnere mich noch gerne an die WM 2002 in Japan und Südkorea. Der Gewinn der Weltmeisterschaft und die Erinnerungen daran waren auch ein Grund für mich, noch einmal das Angebot anzunehmen, die brasilianische Nationalmannschaft auf die WM 2014 vorzubereiten - neben der Tatsache, dass das Turnier in der Heimat stattfindet.“ Konkrete Vorstellungen, was er nach dem kommenden Weltturnier machen könnte, hat er keine, da seine ganze Konzentration darauf ausgerichtet ist: „Ich hatte schon so meine Vorstellung von meiner Lebensplanung. Aber dann haben sich die Dinge geändert. Heute denke ich allein daran, bei der WM 2014 den Titel zu gewinnen. Und wenn wir dazu wieder, wie im Finale 2002, Deutschland besiegen müssen.“

Quelle: dfb.de
Autor: Henning Klefisch
Schlagworte: WM 2014, Luiz Felipe Scolari, Brasilien, Deutschland, Neymar, Joachim Löw
Datum: 14.01.2014 10:15 Uhr
Url: http://www.3-liga.com/news-fussball-brasilien-trainer-scolari--%84deutschland-ist-fast-ein-komplettes-team%93-10027.html


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