11 Götter sollt ihr sein: Die wiederverzauberte Welt des Fußballs


Die Zeit rennt und die diesjährige Fußball-Weltmeisterschaft steht quasi vor der Tür. Für Deutschland, den amtierenden Weltmeister, gilt es dann, sich vom 14. Juni bis zum 15. Juli zu beweisen. Doch vorerst müssen wir uns noch in Geduld üben, denn Bundestrainer Joachim Löw wird seinen vorläufigen Kader erst am 15. Mai bekannt geben. Um die Vorfreude auf diese besondere Zeit des Jahres zu erhöhen, soll nun ein etwas tiefgründigerer Blick auf das, was alle Fußball-Fans miteinander verbindet, gewagt werden. Natürlich ist dies die Liebe zum Fußball, doch es ist noch viel mehr: Es ist der magische Glaube an eine zum Teil als Ersatzreligion fungierende Gemeinschaft.

Fußball verhindert Kriege

Jahrelang haben sich die europäischen Länder bekriegt, nun herrscht seit Jahrzehnten Frieden auf dem europäischen Kontinent und größtenteils auch weltweit. Wurden Kriege einst geführt, um Auseinandersetzungen und Machtansprüche auszuloten, so gibt es heutzutage andere Mittel und Wege dies zu tun: Im Fußball beispielsweise. Der Hang des Menschen zum kompetitiven Kräftemessen und zum Vergleichen wird in neuen Tätigkeitsbereichen ausgelebt. Insbesondere während Europa- und Weltmeisterschaften können sämtliche Länder erneut um hegemoniale Ansprüche um die Wette zanken - nun jedoch einzig und allein im Bereich des Fußballs. Fußball ist also ein Kriegsersatz. Doch ebenso erkennt jeder einzelne Fan, dass Fußball mehr ist als nur ein Ballspiel mit starkem Wettbewerbscharakter. Fußball hat nämlich durchaus das Zeug zur Ersatzreligion.

Fankulturen als außergewöhnliche Gemeinschaftsformen

Ein wahrhaftig überzeugter Fußball-Fan kann in der Fankultur seines Fußballvereins nicht nur die Wirkmacht von sozialem Zusammenhalt und Zugehörigkeit erfahren, sondern auch eine Richtschnur für sein eigenes Leben finden. Die weltweite Fußballbegeisterung, vor allem in Zeiten von Europa- und Weltmeisterschaften, besitzt sogar regelrecht religiöse Züge. Manche Fußball-Fans sprechen vom "Fußballgott" und andere wiederum vom "heiligen Rasen". Im Stadion werden beschwörende Fanhymnen gesungen, die nicht unwesentlich liturgischen Gesängen in der Kirche ähneln. Es gibt gemeinschaftsbildende Rituale und Traditionen wie zum Beispiel das eifrige Wetten auf den Ausgang von Fußballspielen. Fankulturen bilden Gemeinschaften, sie trösten, machen Mut, sie schaffen ein kollektives Zugehörigkeitsgefühl und liefern somit Identitätsbausteine für jeden einzelnen Fan. In dieser Funktion ähneln Fankulturen sehr stark kirchlichen Gemeinschaften. Weil der Fußball bei Fans weltweit ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermittelt, hat der deutsche Verein "FC Playfair" den Plan, die Fußball-Fankultur als immaterielles Weltkulturerbe bei der UNESCO einzureichen.

Formwandlung von Religion

Die klassische christliche Religion hat im Laufe der letzten 500 Jahre ihre einzigartige Deutungshoheit in der westlichen Gesellschaft verloren. Diese als Säkularisierung bezeichnete Entwicklung hat ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Modernisierung sowie der wissenschaftlichen Aufklärung. Doch wenngleich die Bedeutung und Zustimmung zur klassischen Religion des Christentums abgenommen hat, so hat Religiosität in unserer heutigen Gesellschaft dennoch einen hohen Stellenwert. Das Ergebnis ist eine Art "religiöse Supernova", denn in der heutigen Spätmoderne steht es jedem Menschen frei, seinen individuellen Zugang zur Religiosität zu finden. Die substanzielle Ausgestaltung der eigenen Religiosität obliegt demnach nicht mehr zentraler Institutionen, wobei es den klassischen Religionen nach und nach gelingt, sich den neuen Bedingungen funktional anzupassen. Dieser individuelle Zugang zu vielfältig differenzierten und substanziellen Formen von Religion ist jedoch keineswegs nur rationaler Natur, er bedient sich ebenfalls magischer und symbolischer Elemente, wie dies auch bei klassisch religiösen Zugängen der Fall ist.

Die Wiederverzauberung des Alltags

Im Zuge der Aufklärung und der Rationalisierung gilt in unserer heutigen Gesellschaft die "Entzauberung der Welt" als wesentliches Beschreibungsmerkmal. Alten abergläubischen Überlieferungen wurde Absage erteilt und die Vernunft erhielt nunmehr die absolute Deutungshoheit. Das Ergebnis war und ist eine "metaphysische Heimatlosigkeit", weswegen in der heutigen Zeit so manche Menschen von einer Sinnkrise zur nächsten hetzen, sollten sie es nicht schaffen, ihr jeweiliges übersinnliches Vakuum mit Inhalt zu füllen. Zweifelsfrei hat das rationale Denken den Menschen aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" herausgeführt, doch ein Leben als sich stets selbst optimierender Einzelkämpfer - vielerorts als das wichtigste Denkmuster unserer Zeit propagiert - macht die wenigsten von uns nachhaltig glücklich. Der Zwang zur Maximierung der eigenen Optionenvielfalt wiederum bringt den Menschen dazu, nach neuen Maßstäben der Verortung zu suchen bzw. nach neuen Möglichkeiten, seinem Leben eine Richtung zu geben. Diese Wegweiser sind sowohl signifikante soziale Beziehungen als auch wiederverzauberte Elemente im Alltag. Die Suche nach persönlicher Resonanz in einer effizienzorientierten Welt bedingt nicht nur das Erheben "markanter Einsprüche gegen eine ganz und gar verzwickte durchrationalisierte Wirklichkeit" (Max Weber), sondern auch das Streben nach Erfahrungen, die den Schwerpunkt auf affektionale, prosoziale, symbolische und traditionelle Weltzugänge legen. Der Stadionbesuch beim Fußballspiel kann auf alle diese Sinndimensionen beispielhaft abstellen.

Die Grenzen der Fußball-Fankultur

Im Stadion treffen sich Menschen üblicherweise mit der Hoffnung, dass die jeweils eigene Mannschaft gewinnen möge. Denn letztendlich geht es im Fußball darum, seine Kräfte zu messen und zu gewinnen. Doch auf das bloße Siegersein lässt sich das Glück eines Menschen jedoch nicht aufbauen. Obwohl zu jedem Leben auch Misserfolge gehören, weist der Sport nur dem Sieger die höchste Bedeutung zu. Die klassische Religion hingegen steht auch auf der Seite der Verlierer. Schließlich verweist sie auf eine transzendente Wirklichkeit, die auch Aspekte jenseits der irdischen Lebenswelt erklärt. Wenngleich die klassische Religion und die vermeintliche Ersatzreligion Fußball beide metaphysische, (wieder-)verzauberte Welterschließungen ermöglichen, so kann diesen Zugang doch keine Fankultur der Welt mit transzendentem Inhalt füllen. Hinzukommt, dass viele Fangemeinschaften, obwohl sie doch allesamt dem gleichen "Fußballgott" frönen, sich wechselseitig bekriegen. Da eine gute Fankultur dort aufhört, wo andere Fans Schaden nehmen, kann nicht oft genug angeprangert werden, dass Fairness, Offenheit und Toleranz unter den weltweiten Fußballfans noch ausbaufähig ist. Ferner ist es besonders kritisch zu werten, wenn Fußballvereine in Zeiten von Europa- und Weltmeisterschaften als Sammelpunkt radikal nationalistischer Stimmungen dienen. Schließlich sollten Fußballfans weltweit neben dem Spielerischen stets das Verbindende im Fokus behalten. Das heißt, dass Gewalt und Randale in den Stadien genauso wenig Platz haben dürfen wie üble Auseinandersetzungen und Unfairness. Wird all dies beherzigt, so stellt die Fußball-Fankultur auch weiterhin ein Ventil für Sorgen aller Art dar - eine individuelle Möglichkeit der Wiederverzauberung des durchrationalisierten Alltags. Denn Fußball besitzt die Macht, die Welt zu vereinen - und dies in einem bisher unbekannten Ausmaß.

Autor: NP
Schlagworte: Fußball, Religion, Mythos, Kult
Datum: 07.05.2018 13:56 Uhr
Url: http://www.3-liga.com/news-fussball-11-goetter-sollt-ihr-sein--die-wiederverzauberte-welt-des-fussballs-37820.html


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