Bundestrainer Joachim Löw: „Wir sind noch nicht fertig“


Am morgigen Dienstag gibt es um 22.00 Uhr für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft das WM-Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien in Belo Horizonte zu bestreiten. Mit einem Sieg gegen die personell gebeutelten Brasilianer winkt die erste Final-Teilnahme bei einem Weltturnier seit mittlerweile zwölf Jahren. Die Aufregung vor diesem Duell der beiden Fußball-Großmächte ist gewaltig. Die Ruhe selbst scheint aktuell Bundestrainer Joachim Löw zu sein, der sich nun ausführlich gegenüber „DFB.de“ zu Wort gemeldet hat. Für ihn zählt einzig und allein der WM-Titel, nachdem es seit 2006 immer mindestens bis ins Halbfinale gelangt hat, aber ein großer Titel seit dem EM-Gewinn 1996 noch auf sich warten lässt.

Bundestrainer Joachim Löw: „Wir sind noch nicht fertig“
„Platz eins interessiert mich aktuell nicht in einer Liste“

Der knappe aber letztlich verdiente 1:0-Sieg im WM-Viertelfinale gegen Frankreich hat neben dem Halbfinaleinzug auch zur glücklichen Folge gehabt, dass erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten das DFB-Team wieder an der Spitze der FIFA-Weltrangliste steht. Löw möchte dieser Platzierung jedoch aktuell keine allzu große Bedeutung beimessen, da der WM-Titel für ihn deutlich wichtiger erscheinen mag. Dies bringt er gegenüber „DFB.de“ auch klar und deutlich zum Ausdruck: „Das ist für mich im Moment nicht sonderlich relevant. Platz eins interessiert mich aktuell nicht in einer Liste, sondern einzig und allein hier beim Turnier. Von den Daten und Zahlen können wir uns hier nichts kaufen.“

Beeindruckende Bilanz seit der WM 2010

Der erste Platz in diesem prestigeträchtigen Ranking ist auch einmal mehr Beweis genug für die starke Entwicklung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, denn seit dem Jahr 2010 hat der dreimalige Welt- und Europameister von 31 Pflichtspielen 28 Siege einfahren können bei zwei Remis und der Halbfinalniederlage gegen Italien bei der EM 2012. Ein Remis gab es im WM-Gruppenspiel gegen Ghana und beim fast schon historischen 4:4-Unentschieden gegen Schweden in der WM-Qualifikation. Die beachtliche Entwicklung hat Löw nun auch freudig registrieren können, wie er nun verraten hat: „Diese Statistik habe ich nie so verfolgt, aber Wolfgang Niersbach hat mir das kürzlich mal vorgerechnet, mir selbst war das gar nicht so bewusst. Mich freut es natürlich, auch weil wir den Menschen mit den vielen Siegen und unserer attraktiven Spielweise viel Freude bereiten konnten. So war es ja auch bei allen großen Turnieren. Bei den letzten vier Weltmeisterschaften stand die deutsche Nationalmannschaft jeweils mindestens im Halbfinale. Das spricht für Konstanz und Kontinuität und dafür, dass die Mannschaft seit Jahren auf allerhöchstem Niveau spielt.“

„Wir werden den Brasilianern einen großen Kampf liefern“

Einen gewaltigen Respekt zeigt Löw vor dem Gastgeber Brasilien, die auf ihren Heimvorteil durch die frenetischen Fans setzen können und zudem sehr körperbetont spielen. Deshalb mag er nicht in den Tenor der zahlreichen Experten einstimmen, die Deutschland als den Favoriten in diesem Semifinale sehen wollen: „Wir wissen doch alle, wie stark Brasilien ist. Die Gastgeber waren von Beginn an der große Favorit. Und die Spieler sind mit dieser Rolle bisher überzeugend umgegangen. Die Brasilianer haben ja bereits beim Confed Cup im vergangenen Jahr unter Beweis gestellt, dass sie die Erwartung im Land offensichtlich noch zusätzlich beflügelt. Der Druck hat sie nicht gelähmt, sie haben ihren Fans die erhofften Feste geboten. Das ist auch großartig für das ganze Turnier. Es ist gut, dass der Gastgeber lange dabei ist. Aber auch wir sind selbstbewusst. Wir haben uns im Laufe des Turniers gefestigt, sind stabil, physisch wie psychisch. Wir werden einen guten Plan entwickeln und den Brasilianern einen großen Kampf liefern. Die Chancen sind ausgeglichen. Kleinigkeiten werden darüber entscheiden, wer ins Finale einziehen wird.“

Löw bedauert das Neymar-Aus sehr

Ohne Spielführer Thiago Silva, der seine Gelbsperre auskurieren muss und Superstar Neymar, der sich im Halbfinale nach einem fiesen Foul seines Gegenspielers Zuniga einen schmerzhaften Wirbelbruch zugezogen hat, wird die „Selecao“ gegen die Bundesadler um den Finaleinzug kämpfen. Löw erwartet jedoch eine Trotzreaktion des personell angeschlagenen Kontrahenten: „Zunächst mal tut es mir wahnsinnig leid für Neymar. Er ist ein großartiger Fußballer, dass er jetzt ausfällt, ist bitter und großes Pech. Für ihn, seine Mannschaft, die ganze Nation. Ich wünsche ihm, dass er so schnell wie möglich auf den Platz zurückkehren kann, und dass er es schafft, mit diesem Rückschlag positiv umzugehen. Bei einer Weltmeisterschaft will man die weltbesten Fußballer sehen, und als Spieler will man sich immer auch mit den Besten messen. Für die Brasilianer ist es bedauerlich, dass sie ohne zwei ihrer besten Spieler antreten, aber das werden sie kompensieren können. Rückschläge setzen oft zusätzliche Kräfte frei. Es darf niemand glauben, dass unsere Aufgabe durch den Ausfall von Neymar leichter geworden ist, eher im Gegenteil. Und bei der Sperre von Thiago Silva zeigt sich die Breite des Kaders der Seleção. Felipe Scolari kann nun einen Spieler wie Dante einsetzen, einen Qualitätsverlust kann ich da nicht erkennen.“

„Unser gemeinsames Projekt ist noch nicht zu Ende“

Allerdings hat auch Deutschland ein gewaltiges Verletzungsproblem, denn langjährige Leistungsträger wie Holger Badstuber, Ilkay Gündogan, Mario Gomez und Lars Bender, die zweifelsfrei das Potential für die Startelf besessen hätten, mussten verletzungsbedingt ausfallen. Ein möglicher WM-Superstar ist mit Marco Reus im letzten Testspiel vor der WM ausgefallen. Gerade Reus befand sich in der Form seines Lebens und bereut vielleicht im Nachhinein diese risikoreiche Zweikampfführung im Testkick gegen Armenien. Der Bundestrainer möchte diesen Spielern nicht mehr hinterhertrauern und schaut stattdessen in die Zukunft, da er noch ein klares Ziel vor Augen hat: „Auch für diese Spieler, die fit sicherlich eine Berechtigung hätten, hier im Kader zu stehen, tut es mir unendlich leid. Es bringt aber nichts, darüber nachzudenken, wer alles fehlt und wer uns hier hätte helfen können, damit beschäftige ich mich nicht. Ich habe großes Vertrauen in jeden einzelnen Spieler, der hier in Brasilien dabei ist, und diesen Spielern widme ich meine ganze Aufmerksamkeit. Sie sind unglaublich motiviert und diszipliniert, es herrscht ein unglaublicher Teamspirit. Es ist eine große Freude, mit dieser Mannschaft zu arbeiten. Unser gemeinsames Projekt ist noch nicht zu Ende.“

Löw erklärt seine Auswahlkriterien

Vor dieser WM ist die Kritik an Löw sehr groß geworden, da er Spieler für wichtige Positionen in den Kader berufen hat, die ihr volles Leistungspotential zunächst nicht abrufen konnte. So musste sich etwa Sami Khedira zunächst noch von den Folgen seines Kreuzbandrisses erholen, während Bastian Schweinsteiger stets über seine Verletzung im Sprunggelenk und den wiederholten Problemen mit den Sehnen geklagt hat. Beide sind als Führungsspieler enorm wichtig. Löw möchte sich in diese Diskussion keineswegs einmischen und will sich auch bewusst nicht rechtfertigen: „Es ist immer eine Abwägung von Chancen und Risiken. Ich wusste, dass beide Spieler mit ihrer Qualität für uns wichtig werden würden. Es war uns von Anfang an klar, dass wir Sami und Bastian erst nach und nach an die Spielweise und das Niveau in Brasilien heranführen müssen. Mit Philipp Lahm im Mittelfeld haben wir eine weitere Alternative erarbeitet. Er hat diese Position übrigens auch beim FC Bayern auf einem überragenden Niveau gespielt. Für uns geht es immer darum, vor jedem Spiel darüber zu entscheiden, was in dieser Situation, zu diesem Zeitpunkt, das Beste für die Mannschaft ist. Wir Trainer stehen Tag für Tag mit den Spielern auf dem Platz, wir sprechen mit ihnen, wir beobachten sie. Dann treffen wir die Entscheidungen.“

„Variabilität und Flexibilität haben uns ins WM-Halbfinale geführt“

Eine eher erzwungene taktische Maßnahme hat Löw nach 70 Spielminuten im WM-Achtelfinalspiel durchführen müssen. So hat er Kapitän Philipp Lahm aus dem zentralen Mittelfeld auf die rechte Verteidigerposition gesetzt. Auch gegen Frankreich hat er den 30-Jährigen auf seiner angestammten Position belassen. Für Löw scheint diese Verschiebung nur allzu verständlich zu sein: „Philipp ist ein absoluter Weltklassespieler, zu dessen großen Stärken seine Variabilität und Flexibilität gehören. Im Übrigen bin ich froh, dass wir viele Spieler haben, die auf mehreren Positionen spielen können. Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes haben dies in der Verteidigung eindrucksvoll demonstriert. Es ist doch klar, dass wir diese Stärken im Sinne der Mannschaft einsetzen. Das sind auch exakt die Eigenschaften, die Trainer und genauso die gesamte Mannschaft haben müssen, wenn wir auf diesem Niveau bestehen wollen. Variabilität und Flexibilität haben uns ins WM-Halbfinale geführt. Und alle können sicher sein: Wir haben noch weitere Varianten.“

„Ich verfolge eine klare Linie“

Auch wenn er selbst nur allzu genau weiß, dass die Diskussionen um die richtige Position von Philipp Lahm in Fußball-Deutschland gewaltig sind, so möchte er sich davon keineswegs allzu sehr beeinflussen lassen, wie er gegenüber „DFB.de“ klarstellen möchte: „ Natürlich bekomme ich so etwas mit, auch wenn ich kaum etwas lese. Aber von solchen Dingen habe ich mich in meinen Entscheidungen nie beeinflussen lassen. Es ist doch normal und verständlich, wenn diskutiert wird. Das gehört zum Fußball dazu. Dieser Sport lebt doch davon, dass alle mitreden können und davon, dass es so viele Sichtweisen gibt. Es freut mich, dass die Nationalmannschaft solch ein Gesprächsthema ist. Jeder soll seine Meinung haben, es macht doch auch Spaß, über Fußball zu reden. Wir machen das intern nicht anders. Ich verfolge eine klare Linie und werde diese nicht der öffentlichen Meinung anpassen, nur um dieser Meinung zu entsprechen. Veränderungen nehmen wir dann vor, wenn wir aus den Spiel- und Trainingseindrücken sowie unserer Analyse das Gefühl haben, dass Veränderungen notwendig sind. Wie gesagt: Wir überlegen immer, was in der jeweiligen Situation das Beste für die Mannschaft ist.“

„Die Spieler müssen unsere Ideen, unsere Vorgaben umsetzen“

Wie und mit wem er über die taktischen Varianten spricht, konnte er ebenfalls verraten. Dabei ist explizit aufgefallen, dass das Trainerteam selbstverständlich ein deutlich größeres Mitspracherecht bekommt, als etwa die Führungsspieler. Löw weiß jedoch allzu genau, dass er letztlich die Verantwortung übernehmen muss: „Natürlich spreche ich viel mit den Spielern, insbesondere den Führungsspielern. Die Spieler müssen unsere Ideen, unsere Vorgaben umsetzen, sie müssen sich damit identifizieren und an sie glauben. Sie sollen verstehen, warum wir welche Maßnahmen ergreifen. Die heutige Generation ist taktisch geschult und möchte sich auch taktisch einbringen. Aber um es klar zu sagen: In erster Linie spreche und diskutiere ich natürlich mit Hansi Flick und Andy Köpke. Auch Oliver Bierhoff hilft mir manchmal mit seiner Sichtweise. Aber wissen Sie: Am Ende bin ich es, der die Entscheidungen trifft. Manchmal muss ich dabei einfach meiner Intuition folgen.“

„Wir wollen unbedingt noch mal in Rio im Maracanã-Stadion spielen“

Nun steht am morgigen Dienstag also das wichtige Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien bei seiner vielleicht letzten Weltmeisterschaft auf dem Programm. Er weiß, dass dies die letzte Chance bei seiner wahrscheinlich letzten Weltmeisterschaft als Bundestrainer sein wird: „Das ist ein Highlight, etwas sehr Spezielles und Großartiges. Meine Vorfreude ist wahnsinnig groß, so geht es allen bei der deutschen Nationalmannschaft, und ich glaube, so geht es allen Deutschen. Eines steht fest: Wir wollen unbedingt noch mal in Rio im Maracanã-Stadion spielen. Am 13. Juli. Wir sind noch nicht fertig.“

Quelle: dfb.de
Autor: Henning Klefisch
Schlagworte: WM 2014, Deutschland, Brasilien, Joachim Löw, Neymar, Bierhoff
Datum: 07.07.2014 12:09 Uhr
Url: http://www.3-liga.com/news-fussball-bundestrainer-joachim-loew--%84wir-sind-noch-nicht-fertig%93-13870.html


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